Ich las vor einigen Tagen einen Kommentar von Burkhard Müller-Ullrich zum Fall Cornelius Gurlitt, der mich beschäftigt hat, weil ich ihn in großen Teilen nicht nachvollziehen konnte.
Ein Kernsatz ging so:
Es gibt eine Öffentlichkeitswut, die sich seit einer Woche über den 80-Jährigen ergießt und wieder einmal zeigt, wie rasch die Grundlagen des Rechtsstaats an den schnellen Skandal verraten werden: der Schutz der Privatsphäre, die Unschuldsvermutung, die Sicherheit des Eigentums.
Die Privatsphäre umfasst im Kern personenbezogene Daten, das Fernmeldegeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Medien haben – so weit man weiß – weder Gurlitts Telefonate abgehört, noch sind sie in seine Wohnung eingedrungen. Dass persönliche Daten veröffentlicht wurden, lässt sich mit dem laufenden Strafverfahren und dem öffentlichen Interesse durchaus begründen.
Punkt zwei: Die Unschuldsvermutung. Dieses Argument hört man in Fällen dieser Art regelmäßig. Wo aber bitte steht, dass sich Journalisten an die Unschuldsvermutung halten müssen? Die Unschuldsvermutung gilt im Kern für die Justiz, die Aufgaben von Medien ist es zu berichten. Medien berichten subjektiv, das liegt in der Natur der Sache. Als Blogger werde ich erst Recht Stellung beziehen.
Beim dritten Punkt musste ich besonders schlucken: „Sicherheit des Eigentums“. Diesen Punkt finde ich sehr zynisch. Besitz ist nicht gleich Eigentum. Wir sind es gewohnt davon auszugehen, dass der Besitzer auch der Eigentümer eines Gegenstandes ist. Das ist eine Gewohnheit, die sich bewährt hat. Genauso hat es sich bewährt, dass man Eigentumsverhältnisse hinterfragt und klärt, wenn sich gewisse Verdachtsmomente ergeben.
Im Fall Gurlitt gibt es genug Verdachtsmomente. Burkhard Müller-Ullrich geht darauf in zwei Nebensätzen ein:
Und dann gibt es noch diesen Nazi-Hintergrund des Vaters. Er hat als deutscher Kunsthändler mit dem Dritten Reich gedealt.
Und schlussfolgert:
Doch was immer Hildebrand Gurlitt, der Vater, getan hat, sein Sohn Cornelius war 23, als er die Sammlung 1956 erbte. Man kann vielleicht bei einigen der 1400 Werke, die bei ihm beschlagnahmt wurden, an sein Gewissen appellieren, doch ein Jahr und neun Monate danach können die Ermittler nichts vorweisen, was die Beschlagnahme rechtfertigt.
Burkhard Müller-Ullrich hat Recht, aus dem Umfeld der örtlichen deutschen Strafverfolgungsbehörde sickert in der Tat durch, dass man „nicht viel“ gegen Gurlitt in der Hand hat. Aber anders als Herr Müller-Ullrich es darstellt, besteht bisher keine wirkliche Öffentlichkeitswut, sondern im Gegenteil die Kommentatoren in den einschlägigen Foren (Spiegel, SZ, FAZ) stehen mehrheitlich auf der Seite von Gurlitt.
Mit dieser Version der Geschichte lassen sich viele deutsche Journalisten glücklicherweise nicht abspeisen. Die aufdeckenden Journalisten vom Focus schlagen sich zurecht auf die Brust. Zum ersten Mal seit vielen Monaten, wenn nicht gar Jahren, haben deutsche Journalisten einen wirklich relevanten Fall aufgedeckt, mit vielen interessanten Fragen und noch interessanteren Antworten.
Um es ganz deutlich zu machen: Mit Herrn Gurlitt habe ich null Mitleid. Der Mann wusste und weiß sehr genau wie moralisch fragwürdig sein Verhalten ist. Sein Einrichten in der Opferrolle ist geradezu grotesk. Wäre der Mann als Patient in ärztlicher Behandlung, würde man als einer der ersten Schritte eine psychiatrische Begutachtung veranlassen, um zu sehen, ob der Mann überhaupt noch ausreichend geschäftsfähig ist. Es gibt auch hier genügend Verdachtsmomente, dass dies gar nicht mehr der Fall ist.
Es liegt auch im Interesse des Mandanten, dass man herausfindet, ob er diesem Stress und den Anforderungen, die sich aus dem Fall ergeben, überhaupt noch gewachsen ist oder ob es nicht besser ist, wenn man den Fall ohne ihn weiterführt.
Zu den Behörden: Das Klein-Klein der deutschen Behörden ist bisher in der Tat skandalös. Auch da treffen bestimmte deutsche Medien ausnahmsweise sehr genau den Punkt. Das Verhalten der deutschen Justiz ist erst recht nicht überraschend. „Rechtmäßigkeit“ im deutschen Sinne nehme ich zur Kenntnis, aber es hat für mich keine Bedeutung. Bis in die 70er Jahre hinein war es „rechtmäßig“, dass man Morde aus der NS-Zeit nicht verfolgen konnte, weil Verjährung eingetreten war. Erst dann wurde die Verjährungsfähigkeit von Mord aufgehoben.
Der Begriff „rechtmäßig“ ist in diesem Zusammenhang nicht wirklich mit moralischen Werten verbunden. Alle Erpressungen, Unterschlagungen, Körperverletzungen und Morde durch den NS-Staat und seine Helfer waren zu dieser Zeit durch NS-Gesetze gedeckt und damit „rechtmäßig“. Rechtmäßig ist ein Begriff für den Abfalleimer. Wer nur so argumentiert, sollte eine Brechschale mitbringen. Ich traue dem Staat nicht und traue ihm generell alles zu, besonders dem deutschen. Was heute „rechtmäßig“ ist, ist morgen unrechtmäßig und andersherum.
In Deutschland gelten (anders als in Frankreich, den Niederlanden und Österreich!) weiter Verjährungsfristen für NS-Raubkunst. Das ist rechtliche Grundlage, die die viel zitierte deutsche „Rechtmäßigkeit“ ermöglicht.
Es zeigt sich das Bild des Deutschen, der zwar überall Mahnmale errichtet, Stolpersteine verbaut, KZ-Anlagen renoviert (!) und „Nie wieder!“ schreit, aber dann, wenn es um konkrete Handlungen und reale Entschädigungen geht, amoralisch handelt, abblockt und mauert.
Ich verweise an dieser Stelle auf den sehr guten Blog des ehemaligen FAZ-Journalisten Klaus Peter Krause, der immer wieder ausführlich darstellt, mit welchen „rechtmäßigen“ Tricks Personen, die von Nazis und Kommunisten geschädigt und enteignet wurden, bis heute nicht einmal den Hauch einer Entschädigung erhalten.
Wenn ich den Eindruck zusammenfasse, den ich aus den Kommentaren der Leser von SZ, FAZ, Welt gewonnen habe: „Scheiß!!! Staat!, inkompetente Beamten-(Schimpfwörter), lasst den Mann in Ruhe, Hexenjagd.“
„Wo aber bitte steht, dass sich Journalisten an die Unschuldsvermutung halten müssen?“ In D im Pressekodex, freilich eine freiwillige Selbstbeschränkung, die ohnehin nur eingehalten wird, wenn’s gerade passt. Ich hätte aber nichts dagegen.
„Ich traue dem Staat nicht, und traue ihm generell alles zu. Besonders dem deutschen. Was heute “rechtmäßig” ist, ist morgen unrechtmäßig und andersherum.“
Richtig.
Gurlitt ist in Salzburg Grundbesitzer und Steuerzahler. Die Bilder hatte er in München.
Zu dem Thema Raubkunst las ich diese Woche, dass ein New Yorker Gericht einem deutschen Museum in dritter Instanz ein antikes assyrisches Goldplättchen im Millionenwert zugesprochen hat. Ein sowjetischer Soldat hatte es einem KZ Überlebenden nach dem Krieg für zwei Schachteln Zigaretten gegeben. „Deutsche Archäologen haben es 1913 im Irak ausgegraben“, am Ischtar-Tempel. Es kam 1926 nach Berlin. Offenbar einigermassen „rechtmäßig“. Wikipedia: „Nachdem aufgrund des 1. Weltkriegs die Grabungsarbeiten in Babylon zum Erliegen gekommen waren, wurden erst 1926 die Verhandlungen zwischen den Berliner Museen und dem neu gegründeten Irakmuseum in Bagdad über die Teilung der Funde aufgenommen und es gelang, die irakische Seite davon zu überzeugen, dass nur durch das Zusammenführen der neuen Funde mit den bereits in Berlin befindlichen eine Rekonstruktion des Tores möglich sei. Und so trafen im März 1927 geschätzte weitere 400 Kisten voller emaillierter Ziegelbrocken in Hamburg ein, von wo aus sie nach Berlin transportiert wurden.“
Hier noch warum ich den Focus nicht lese: Markwort.
http://de.wikipedia.org/wiki/OL_(Cartoonist)#Sonstiges
Danke für die Infos und deinen Kommentar. DL hat schon einiges geleistet an Entschädigungen, das will ich nicht verschweigen. Ich wünsche mir in Europa auch keine „amerikanischen“ Verhältnisse bei der Herrscharen von Anwälten tausende Prozesse anzetteln und grotesk hohe Summen herausschlagen, die mit realen Werten und Schäden rein gar nichts mehr zu tun haben. Das will ich nicht, das zerstört schon Amerika, das muss in DL nicht auch noch sein. Ich will nur, dass die Deutschen jetzt seriös versuchen die Geschichte der Bilder herauszufinden. Dies scheint nun Dank des Druckes gewisser Medien zu geschehen und das ist dann wirklich einer der wenigen Fälle, wo ich mich bei den deutschen Medien bedanke und wo ich finde, dass sie ihren Job gut gemacht haben.
OT
Diese Seite wird nur noch von google gefunden. Alle anderen Suchmaschinen kennen sie nicht mehr.
Mich würde interessieren ob das anderen auch so geht.
Bei mir ist es wie bei Mme Haram. Sogar bei google.com/ncr kommt meine Seite an erster Stelle. Frag‘ mal bei Obama an, ob er dein Internet blockiert hält. 😀
Jetzt mal im Ernst: Die meisten Zensuren veranlasst der deutsche Staat. Die deutschen Sperren lassen sich aber einfach umgehen, kein Problem. Was bei Ihnen los ist, weiß ich nicht. Bei mir funktionieren heute Achgut.com nicht und diverse Email-Adressen. Vielleicht zieht ja doch Obama den Saft ab für seine dumme Healthcare-Seite.
Bing und de.search Yahoo finden sie bei mir.
yahoo.com auseinander geschrieben nicht, zusammen geschrieben schon.